Der Engel fährt zur Hölle - Breloers Film über Albert Speer
"Lieber, verschonen Sie mich. Ich werde diesem Film nichts Neues über das Dritte Reich abgewinnen können." Es spricht Marcel Reich-Ranicki, und es ging um die Pressevorführung von Heinrich Breloers Film "Speer und Er". "Sie sollten es sich anschauen, es geht auch um Ihre Zeit". "Ich kenne das doch alles, aber gut, riskieren wir es". Und über drei Stunden schauten er und seine Frau Tosia sich zwei der wichtigsten Teile an. Ursprünglich geplant war eine Pause alle dreißig Minuten. Die gab es nicht. Er war gebannt. Einmal zupfte er seinen Begleiter am Ärmel: "Es ist ungeheuerlich, daß ich diesen Film am Vorabend des fünfundachtzigsten Geburtstag meiner Frau hier sehe."
Kein Film über Speer
Breloer hat seinen vierteiligen Film über Albert Speer tatsächlich zu Ende gebracht. Am Mittwoch fand die erste Vorführung statt. Am 9. Mai wird er im ersten Fernsehprogramm ausgestrahlt. Und wer ihn dann sieht, wird feststellen, daß Breloer keinen Film über Speer gemacht hat. Er hat einen Film über den Nationalsozialismus gemacht und einen über Hitler und einen über die Kinder der Täter und einen über die Bundesrepublik und ihre Aufbaugeneration. Und dann doch wieder einen über Speer. So umfangreich ist das Material, das Breloer verarbeitet hat und darbietet, daß hier und heute nur erste Hinweise möglich sind.
Wer Breloers meisterhafte Arbeiten kennt - zuletzt die große familienbiographische Studie über Thomas Mann - weiß, daß er kein Didaktiker ist. Er läßt durch Schnitte und Gegenschnitte, durch Rede und Gegenrede dem Zuschauer die Freiheit des eigenen Urteils. Er ist immer auch, wie es Joachim Fest einst bei Albert Speer war, eine Art "vernehmender" Redakteur. Dazu gehört, daß man, während man den Film noch sieht, sein eigenes Urteil ständig in Zweifel zieht. Kaum wähnt man sich in Sicherheit - etwa indem man nun endgültig überzeugt ist, daß Speer ein opportunistischer Technokrat war -, überblendet schon die nächste Filmeinstellung, was einem eben noch unverrückbar schien.
Gänzlich Neues und Unbekanntes
Breloers Dokumentation ist ein Meilenstein in der filmischen Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus. Sie bringt aber auch historisch gänzlich Neues und Unbekanntes. Und sie ist künstlerisch meisterhaft. Sebastian Koch gibt nach Stauffenberg nun Speer, wiederum vollkommen überzeugend. Das Ereignis ist Tobias Moretti. Der österreichische Schauspieler liest Hitler gleichsam in der Gosse auf, die ordinären und gewalttätigen Zügen des Charakters werden faßbar, ohne daß der Film-Hitler zur Karikatur wird. Breloer schafft es durch präzise Bauten und Kameraeinstellungen, Schauspiel und Vorbild miteinander fast bis zur Ununterscheidbarkeit zu parallelisieren. Berühmte Fotos erwachen zu einem geisterhaften Leben, das den Zuschauer erstarren läßt.
Aber weil zum erstenmal drei der Kinder Albert Speers ausführlich vor der Kamera reden, ist dies auch ein Film über das Nachkriegsdeutschland, über die Kinder des Dritten Reiches und ihre Traumatisierungen. Wenn die im Film notwendigerweise gekürzten Gesprächsprotokolle in vollständiger Länge als Buch vorliegen (es erscheint unter dem Titel "Unterwegs zur Familie Speer" Ende April im Propyläen Verlag), werden sie selbst eine historische Quelle von Rang sein. Befragt werden auch Joachim Fest und Wolf Jobst Siedler, die die "Erinnerungen" Albert Speers 1966 redigierten.
"Natürlich war er dabei"
Einige dieser Zeugen konfrontiert Breloer mit seinen historischen Funden. Wie ein Leitmotiv durchziehen den Film ihr Unglauben, ihr ungläubiges Kopfschütteln, ihre Erklärungsversuche. An einer Stelle wird Joachim Fest gefragt, ob er sich im Lichte neuer Forschungsergebnisse von Speer betrogen fühle. Ja, sagt er, er fühle sich betrogen. Hat Speer die berüchtigte Posener Rede von Heinrich Himmlers gehört? Speer hat das immer bestritten. Aus gutem Grund: Himmler hat in dieser Rede vor Gauleitern sich des Massenmordes an den Juden gerühmt. "Natürlich war er dabei", sagt Siedler ganz trocken.
Speer war der aufgeklärte Nazi, der "Engel, der aus der Hölle kam", wie Siedler unnachahmlich sagt. Und deshalb war er eine Identifikationsfigur für Nachkriegsdeutschland. Es könnte sein, daß nach Breloers Film vor allem Hölle bleibt. Der zentrale Satz der Dokumentation wird von Breloer im Gespräch mit Siedler gesprochen: "Speer war nicht das Rädchen im Getriebe des Terrors. Er war der Terror."
Das Wissen wiegt nun schwerer
Zwar wußte man, wenngleich auch erst seit Speers Tod, daß Speer für die Entmietung der Berliner Juden verantwortlich war. Aber um wieviel schwerer wiegt dieses Wissen nun im Kontext des Films, der ein Geschehen im zeitlichen Ablauf nachvollziehbar macht, das eben nicht, wie Historiker meinten, als Verhängnis oder Sachzwang ablief. Speer brauchte Wohnraum für die Berliner, die durch die Neuplanung der Stadt ihre Wohnungen verloren hatten. Also kam er auf die Idee, den Juden ihre Wohnungen wegzunehmen.
Es spricht Susanne Willems, die Historikerin, die die Fingerabdrücke des Speerschen Verbrechens liefert: "Speer und seine Vertreter werben sechs Wochen vor dem Novemberpogrom für die Entrechtung der Juden." Sechs Wochen vorher. "Ab Ende September 1940 war Speer interessiert an den Deportationen der Juden während des Kriegs. Speer kann sich vor September 1941 nicht damit durchsetzen, daß Juden aus Berlin deportiert werden." Im September 1941 dann doch.
Verstrickender Täter
Es ist dies nur ein Beispiel für die Handlungen eines Mannes, der weniger "verstrickt" als verstrickender, bestrickender Täter war. Sein Amt war es, das der Gestpo die Liste der Juden zur Verfügung stellte. Und sein Amt war es, das in einer Akte vom 28. Oktober 1942 ausdrücklich von der "Durchführung der Sonderbehandlung" sprach und unter anderem Krematorien bewilligte.
Breloer: Sie sagen: Speer wußte, was in Auschwitz geschah - Völkermord.
Susanne Willems: Ja.
Breloer: Woher wissen Sie das?
Susanne Willems: Weil die Politik, die er macht, genau dies zur Bedingung hat.
Breloer: Für Sie ist er einer der großen Verbrecher des "Dritten Reiches"?
Susanne Willems: Ja, sicher.
Breloer: Welcher Satz zeigt Ihnen, daß er vom Völkermord wußte?
Susanne Willems: In diesem Dokument steht ja drin, daß Krematorien und Leichenkeller gebraucht wurden, Drahtzäune, Wachtürme.
Breloer: Und ich sehe hier: vier Leichenhallen für Auschwitz, Verbrennungsöfen.
Die Debatte über Breloers Funde wird geführt werden, wenn der Film öffentlich wird. Sie sind furchtbar, und allein die Berichte über die Arbeitsbedingungen in den Speerschen Steinbrüchen oder in Mittelbau Dora gewinnen durch Breloers dokumentarisches Verfahren eine ganz neue Wucht und Dramatik. Aber all dies ist, um Breloer zu zitieren, nicht das abschließende "Ergebnis Fernsehen". Es gibt kein letztes Urteil. Aber das, was da ist, ist finster, viel finsterer als gedacht. In seinen demnächst erscheinenden Aufzeichnungen wird Joachim Fest offenbar der Suchbewegung Breloers folgen.
Ein Land und eine Familie
Man täuscht sich, wenn man glaubt, daß die Größe dieser Dokumentation darin besteht, Fakten auf Fakten folgen zu lassen. Sie ist unendlich viel mehr; hier geht es um ein Nachkriegsdeutschland, das in vielen Landschaften vom Personal des Büros Speer wiederaufgebaut wurde; hier geht es auch um eine Familie.
Die Familie Speer ist die Gegenfamilie zu der Familie des Thomas Mann. Die Personen dieses Dramas stammen aus der Buddenbrook-Welt und verraten sie mit absoluter Vollständigkeit. Ihre Kinder sind keine Hannos, sondern Gezeichnete ihr Leben lang. Und das nicht zuletzt, die Botschaft der Kinder in diesem singulären Fall, macht Breloers Dokumentation jetzt schon zu einem historischen Werk. Albert Speer junior etwa, der im Laufe seiner Erzählungen fast selber wieder zum Kind wird; staunend über das, was man ihm und seinen Geschwistern angetan hat, fassungslos über die Größe des Wahns, in dem sich die Vaterwelt aufhielt.
Die helfende Hand
Ein weißer VW Käfer in Coesfeld irgendwann in den siebziger Jahren. Es fährt ihn der junge Architekt Friedrich Wolters. Das amtliche Kennzeichen lautet COE-AH 88. Das Auto hat ihm sein Vater Rudolf Wolters geschenkt. Er ist der engste Freund Speers. Er bewundert das Dritte Reich bis zuletzt, macht trotzdem Nachkriegskarriere in Deutschland. Er ist die helfende Hand, die Speer Kaviar und Tabak in die Zelle schmuggelt. Das Kennzeichen dieses Käfers hat er auch für seinen Sohn ausgesucht. Es dauert fast vierzig Jahre, bis die Ermittlungsbehörde in Gestalt Heinrich Breloers an die Tür dieses Sohneslebens klopft.
Friedrich Wolters: Er sagte: "Wir müssen für dich jetzt ein Auto kaufen, weil du uns auch beraten wirst." Es wurde ein weißer VW gekauft, ein Käfer, und der hatte eine Autononummer: COE-AH 88, und mit dem bin ich hier noch rumgefahren. AH stünde für die Stadt Ahaus. Irgendwann habe ich mir dann ein eigenes Auto gekauft, und mein Vater sagte mir: "Schade, daß du die Nummer nicht mehr hast, die hatte ich damals für die extra besorgt. Du weißt ja: Adolf Hitler." Da war ich einigermaßen konsterniert, das hat dann auch zu leichten Auseinandersetzungen geführt.
Breloer: Die 8 ist der achte Buchstabe des Alphabets. 88 ist HH. Das hieß: Heil Hitler. Das wußten alle, die die 88 hatten.
Friedrich Wolters: Das erfahre ich jetzt. Vielleicht ist es auch ganz gut, daß ich es jetzt erst erfahre.
Man muß das Gesicht des Sohnes sehen und seine Stimme hören, wenn er das sagt. Die deutschen Fernsehzuschauer werden es sehen und hören. Doch man wird nicht nur diesen Sohn erleben. Man wird ältere, grauhaarige Herrschaften erleben, die sich allesamt als Söhne und Töchter und Neffen entpuppen. Sie kommentieren, wie das in Familien üblich ist, alte Farbfilme, die sie als Kinder beim Spielen zeigen.
Mit einem Code durchs Leben
Aber sie spielen auf dem Berghof, und der Herr, der sie da nicht nur tätschelt, sondern geradezu liebkost, heißt Hitler, und sie selbst sind die Kinder Albert Speers. Sie alle sind mit einer Art Kennzeichen durch ihr Leben gereist, einem Code, den sie jetzt erst, befragt durch Heinrich Breloer, buchstabieren können. Obgleich es Filme gibt, die sie auf der Terrasse von Hitlers Berghof zeigen, kann sich selbst der älteste, der damals elfjährige Albert Speer, nicht erinnern.
Breloer: Durften Sie mal Filme sehen am Berghof?
Albert Speer: Ja klar, Mickey Mouse.
Breloer: Die hat der "Führer" sich dann auch angesehen.
Albert Speer: Ob der dabei war, weiß ich nicht.
Breloer: Fräulein Braun?
Albert Speer: Ja, auch Fräulein Braun und noch ein paar Leute waren da.
Die als Kinder eine phasenweise familiäre Nähe zu Hitler hatten, erinnern sich nicht an ihn, sondern an Micky Maus. Arnold Speer, der 1940 mit dem Vornamen Adolf geborene dritte Sohn von Hitlers Rüstungsminister, hat, wie er sagte, jede Kindheitserinnerung gelöscht. Albert Speer, der nach dem Vater benannt wurde und später dessen Beruf ergriff, hat 1945 mit dem Abschied vom Obersalzberg massive Sprechstörungen bekommen und Jahre gebraucht, die Traumatisierung zu überwinden. "Das waren", sagt Breloer erläuternd, "ja alles die guten Onkel vom Berghof, die nun auf Giftkapseln bissen oder aufgehängt wurden, von denen man jetzt schreckliche Geschichten erfuhr." Der eigene Vater aber war von der Lichtgestalt, die er auf dem Berg war, zum Kriegsverbrecher geworden.
Die Helden dieses Films
Diese siebzigjährigen Kinder sind, wenn man versuchsweise das Wort verwenden darf, die Helden dieses Films. Sie haben über Jahrzehnte hinweg die Last zweier Leben tragen müssen. Es rächt sich, von Hitler getätschelt worden zu sein. Sie sind damit auch die Repräsentanten ihrer Generationen. Es ist auch die Generation Breloers, die Generation von Fest und Siedler, die das Glück hatten, aus unkorrumpierten Familien zu stammen.
Vielleicht war ein solcher Film vorher nicht möglich. Vielleicht haben die Kinder von einst jetzt erst das Bedürfnis zu erzählen. Offenbar hat sie niemand aufgeklärt über das, was sich ereignet hatte. Diese sechs- bis zwölfjährigen Kinder hatten keinerlei Hilfestellung, auch nur Erklärung für das, was nun geschah. Sie hätten, so erzählt Arnold Speer, zuhause nach 1945 mit der Mutter nie über all das geredet, nicht über Hitler und über die Verbrechen und die Schuld. Aber in der Schule, wenn das Wort Auschwitz fiel, da hatten sie jedesmal Angst, daß mit dem Namen des Ortes nun gleich der Name des Vaters genannt würde.
Quelle: F.A.Z., 18.03.2005, Nr. 65 / Seite 39